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Das »Allgemeine Grunderbes« als Instrument zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts

Coco Aglibut
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Foto: Timon Studler (unsplash)
Hinweis

Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen eines Projektes des Zentrum für Rechtsextremismus-forschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration (KomRex) der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstanden und wurde gefördert durch das Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit "Denk Bunt" des Thüringer Ministerium für Soziales, Gesundheit, Arbeit und Familie (TMSGAF). Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich bei den Autor:innen. Die hier publizierten Inhalte stellen keine Meinungsäußerung des KomRex oder des TMSGAF dar.

Vermögen sind in Deutschland äußerst ungleich verteilt und besonders stark konzentriert: Die wohlhabendsten zehn Prozent verfügen über zwei Drittel des Gesamtvermögens, während das reichste ein Prozent ein Drittel besitzt. Haupttreiber dieser Vermögensungleichheit sind Erbschaften und Schenkungen. Während die Hälfte der Bevölkerung praktisch nichts vererbt bekommt, erhalten einige wenige sehr viel und sind damit von Geburt an reich (vgl. Bach 2021Externer Link). Sehr hohe Vermögen sind demnach von der eigenen Arbeit oder Lebensleistung weitgehend entkoppelt. Diese ungleiche Verteilung von angeborenen Vor- und Nachteilen macht etwas mit unserem Zusammenleben und gefährdet die gesellschaftliche Integration.  

Um die Chancengleichheit aller zu stärken und darüber den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie zu schützen, ist die Idee eines Allgemeines Grunderbe im Gespräch: Eine einmalige Geldzahlung im jungen Erwachsenenalter, die in einem politischen Gemeinwesen an annähernd alle seine Mitglieder bedingungslos (ohne Bedürftigkeitsprüfung oder Gegenleistung) individuell ausgezahlt wird und aus hohen und sehr hohen Erbschaften finanziert wird.  

Das Grunderbe ist ein »überfamiliärer Erbausgleich«. Während der Großteil des Vermögens weiterhin an die eigenen Nachfahren ginge, würde ein Teil davon an die Töchter und Söhne ärmerer Familien übertragen werden, die unverschuldeterweise nicht auf ein eigenes Erbe zählen können. Aus der Vogelperspektive würde somit ein Teil des volkswirtschaftlichen Vermögens kohortenbezogen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, statt – wie bisher – ausschließlich familienbezogen. Reiche Erblasser würden etwas an Nicht-Erben abgeben und könnten sich dabei auf einen politischen Mechanismus verlassen, der die Gleichbehandlung aller Gesellschaftsmitglieder sicherstellt.  

Das Grunderbe setzt damit neue Vorstellungen von sozialer Solidarität abseits von einer »Solidarität aus Nähe« (z.B. Blutsverwandtschaft) voraus und stiftet sie zugleich. Solidarität heißt, wer uns kümmert und für wen wir uns einsetzen. Wenn dem einen Kind nach aktueller Rechtslage, als »Pflichtteilsberechtigte« ein »Pflichtteil« am Erbe seines Elternteils zusteht, warum sollten nicht auch ein Kind besitzloser Eltern in einer Gesellschaft der Gleichberechtigten ein Recht auf einen Anteil am gesellschaftlich vererbten Vermögen haben? Theoretisch besonders interessant erscheint die Wahl der notwendigen Begründung, die für einen solchen Mechanismus überfamiliärer Solidarität ins Feld geführt werden müsste. 

Einerseits könnte man argumentieren, dass jene neuen Solidaritäten wünschenswert erscheinen, weil mehr Gleichheit in einer Gemeinschaft mehr Glück bringt (Pickett & Wilkinson 2009Externer Link) und über den Gewinn an Gleichheit, den ein Erbausgleichssystems verspricht, ein gelingenderes, friedvolleres Zusammenleben gestiftet werden könnte (supererogatorische Begründung). Andererseits könnte man sagen, dass wir es einander moralisch schuldig sind (pflicht-basierte Begründung). So kennt beispielsweise die Bibel die Pflicht zur Nächstenliebe. Die »Nächsten« sind dabei nicht die »Eigenen«, sondern alle Mitmenschen um einen herum, unabhängig von emotionaler Bindung oder Sympathie. Aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive kann man zudem argumentieren, dass sich die Pflicht Erbschaften gerechter zu verteilen, daraus ergibt, dass das vererbte Vermögen nicht nur durch den Erblasser, sondern auch durch die Gesellschaft als Ganzes und insbesondere die Mitglieder der besitzlosen Klassen mit hervorgebracht wurden und deshalb ihren Nachfahren ein Anteil daran zusteht. Erkennt man den »kollektiven« Anteil im Privateigentum an, erscheint es als Gebot der Gerechtigkeit, jenen Anteil wieder an die Gemeinschaft zurückzuzahlen. Im Falle des Grunderbes würde dies nicht über die Rückzahlung an einen Staat erfolgen, sondern über die direkte Auszahlung an die einer Gesellschaft angehörigen Individuen.  

Vor dem Hintergrund aktueller Gefährdungen der Demokratie erscheint die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts besonders drängend, um faschistischen Tendenzen den Nährboden zu entziehen. Die Soziologin Arlie Hochschild (2016Externer Link) zeigt anhand von ihren Interviews mit Anhänger*innen der Tea-Party-Bewegung in den USA, wie sich tatsächliche und wahrgenommene Benachteiligungen in den eigenen Lebenschancen in Ressentiment übersetzen. Ihre Feldforschung legt einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl, selbst keine faire Chance zu haben und Fremdenfeindlichkeit (im weitesten Sinne) nahe. Wer das Gefühl hat, mit dem, was ihm oder ihr wichtig ist, nicht mehr viel zu gelten und im Leben nicht voranzukommen, verliert den Glauben an den Fortschritt. Dieser »Verlust des Fortschrittsversprechens« (Reckwitz 2024Externer Link) verschärft diffuse Abstiegsängste, Statuskonkurrenz und Entsolidarisierung, wodurch Ausgrenzungen Vorschub geleistet wird. 

Die Hoffnung, die sich aus dieser Perspektive an ein Grunderbe knüpft, wäre, die tatsächlichen materiellen Benachteiligungen breiter Bevölkerungsteile zu reduzieren und Abstiegsängsten durch individuelle Absicherung und die Eröffnung von individuellen Aufstiegsmöglichkeiten zu begegnen. Mittels des Grunderbes könnte ein Beitrag zur Förderung der Gleichheit in der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes geleistet werden.  

Vor diesem Hintergrund erscheint das Grunderbe konservativ und progressiv zugleich. Durch seine Einführung sollen einerseits – konservativ – die gesellschaftlichen Abwehrkräfte gegen den Faschismus gestärkt und systemstabilisierend die liberale Demokratie bewahrt werden. Zum anderen kann jedoch der soziale Zusammenhalt zugleich auch als notwendige Grundlage kollektiver Handlungsfähigkeit gedacht werden: Um weitreichende, kollektive Transformationsvorhaben – von der Klimawende zur Umgestaltung globaler Wirtschaftsbeziehungen – auf demokratischem Wege umsetzen zu können, bedarf es breiter gesellschaftlicher Kooperations- und Veränderungsbereitschaften abgesicherter und selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger für Wandel.